Ernährung und Entbehrung – ein Widerspruch?
Auf den ersten Blick scheint es ein wenig widersprüchlich, dass gerade das Zuwiderhandeln gegen den ureigensten Trieb des Menschen – nämlich der Selbsterhaltung durch Nahrungszufuhr – für Körper und Geist gesund sein soll. Betrachtet man die Situation des Hungerns nach einer Phase des ausreichenden oder übermäßigen Nahrungsangebotes, so lässt sich feststellen, dass gerade die Belastungssituation, der der Mensch in ausgeprägten Hungerphasen ausgesetzt ist, physiologische Mechanismen in Gang setzt, die sich positiv auf die Physis auswirken. Noch allgemeiner formuliert kann man festhalten, dass außergewöhnliche mentale und körperliche Belastungen (die wir oft wertend als „Leid“ empfinden und bezeichnen) oft nicht nur ein notwendiges Übel, ein Nebenprodukt der menschlichen Existenz sind, sondern essenziell für unsere physische, psychische und mentale Entwicklung.
Ein Beispiel hierfür ist das Superkompensationsmodell in der Sporttheorie, das besagt, dass der Körper zur Steigerung seiner (sportlichen) Leistungsfähigkeit erst einmal einem Reiz ausgesetzt werden muss, dem er eigentlich nicht gewachsen ist. Ganz konkret heißt das, dass ein Kraftsportler beim Krafttraining seiner Muskulatur durch das Bewegen von Gewichten, die sich jenseits der Grenze seiner Leistungsfähigkeit bewegen, erst „Schaden“ zufügen muss, um dann von den Anpassungs- und Reparaturmechanismen des Körpers profitieren zu können. Durch vermehrte Einlagerung von Eiweißmolekülen in die Muskulatur nach dem schweren Reiz sorgt der Körper dafür, dass der Muskel wächst und der Bewegungsapparat dasselbe Gewicht bei der nächsten Trainingseinheit mit geringerem Aufwand stemmen kann. [1] Phasenweise Entbehrungen und die Anpassung an außergewöhnliche physische oder mentale Belastungen können somit als unabdingbare Notwendigkeit im Kreislauf der fortwährenden menschlichen Entwicklung betrachtet werden.
Unser Gehirn und die Muskulatur sind auf permanente Energiezufuhr aus dem Blut angewiesen. Heute haben wir die Situation, dass vor allem kohlenhydrathaltige Speisen einen großen Teil unserer Energiezufuhr ausmachen. Kohlenhydrate sind allgemein gesprochen molekulare Verbindungen aus Kohlenstoff und Wasser(-stoff), die in unterschiedlich komplexer Struktur in der Natur anzutreffen sind und Energielieferanten für unseren Körper darstellen. Im Allgemeinen sind sie auch als „Zucker“ bekannt. Die Kohlenhydrate mit der einfachsten Struktur, die vom Körper auch am schnellsten verwertet werden können, sind die sogenannten „Einfachzucker“, zu denen der Haushaltszucker (Saccharose), Traubenzucker (Glucose) sowie der Fruchtzucker (Fruktose) gehören. All diesen einfachen Zuckerarten ist gemein, dass sie süß schmecken und vom Körper schnell verwertet werden können, was zur Folge hat, dass sie schnell vom Dünndarm ins Blut gelangen, um dort vor allem dem Gehirn und der Muskulatur als Energielieferanten zur Verfügung stehen. Aufgrund des permanent vorhandenen Nahrungsangebotes sind wir heute in der Lage, unserem Körper ständig Energie in Form von leicht verdaulichen Zuckermolekülen (also Kohlenhydraten in Form von Teigwaren, Nudeln, Süßspeisen aller Art, etc.) zur Verfügung stellen zu können. Der aus diesen leicht verdaulichen Nahrungsmitteln resultierende schnelle Blutzuckeranstieg führt im Gehirn unter anderem zu einer schnellen Ausschüttung von Dopamin, dem Botenstoff, der maßgeblich für unser Glücks-, Belohnungs- und Befriedigungsgefühl zuständig ist, das wir bei angenehmen Tätigkeiten empfinden. [2]
Evolutionsbiologisch betrachtet macht diese Kopplung von Zucker und Belohnungshormon-Ausstoß im Gehirn durchaus Sinn. Es wird angenommen, dass durch diese Querverbindung der Mensch in früheren Zeiten motiviert wurde, sein Fortbestehen durch die Zufuhr süßer Nahrungsmittel wie Früchte zu sichern. Ähnlich verhält es sich mit der Fortpflanzung des Menschen – Sex ist einer der stärksten Auslöser für die Dopaminausschüttung im Gehirn. Ganz allgemein gesprochen kann man also sagen, dass die Ausschüttung von sogenannten „Glückshormonen“ den Menschen motiviert, seinem grundlegendsten Instinkt nachzugehen – dem Instinkt der Arterhaltung. Dieser Exkurs in die Funktionsweise des menschlichen Belohnungssystems ist nicht nur in Hinblick auf unser Essverhalten von immenser Bedeutung – auch für das Verständnis der islamischen Lebenspraxis spielt das dopamingesteuerte Belohnungssystem bzw. die langfristige und nachhaltige Modulation desselben eine immense Rolle. [3]
Interessante Theorie… aber was sagt denn die aktuelle Studienlage in der Medizin dazu?
Durch länger andauernden Verzicht auf Nahrung ist der menschliche Körper gezwungen, auf andere Mechanismen der Energiebereitstellung als die der Zufuhr von Zucker von außen zurückzugreifen. Durch das Fasten wird der Körper veranlasst, seine gespeicherte Energie in Form von Zucker- und Fettverbindungen in der Leber sowie seine Energiedepots im Fettgewebe anzugreifen, um die Energiebereitstellung des Gehirns und der Muskulatur zu sichern. Während langer Hungerperioden ist der Körper außerdem gezwungen, alles, was er in Energie verwandeln kann, zu verwerten.
So kann man auf zellulärer Ebene beobachten, dass das Fasten die „Selbstverdauung“ von Zellen, die sogenannte „Autophagie“ aktiviert und Zellen veranlasst, nicht mehr benötigte oder schädliche Ablagerungen, die in der Zelle lagern, zu verwerten und in Energieträger umzuwandeln. Dieser Effekt konnte in einer Studie aus dem Jahr 2010 vor allem in bestimmten Neuronen, also Nervenzellen des Gehirns nachgewiesen werden. [4]
In einer weiteren Studie aus dem Jahr 2010 konnte außerdem in Versuchen mit Mäusen gezeigt werden, dass intermittierender Nahrungsentzug in der Gruppe von Mäusen, denen über einen gewissen Zeitraum Nahrung vorenthalten wurde, die Sterblichkeitsrate nach Schlaganfällen verringert war, außerdem konnte eine Hochregulation von Proteinen, die die Nervenzellen nach Beschädigung schützen, beobachtet werden. [5]
Insbesondere die Aktivität von Entzündungsvorgängen und den daran beteiligten Molekülen im menschlichen Körper kann durch (intermittierendes) Fasten signifikant verringert werden. [6]
Auch positive Auswirkungen auf den Blutdruck, den Blutzuckerspiegel, die Sensitivität des Körpers für das Zucker verarbeitende Hormon Insulin, sowie die Zusammensetzung und Verteilung von Fetten im Blut durch das Fasten konnten gezeigt werden. Über diesen Mechanismus, nämlich der nachhaltigen Modulation von Blutzucker- und Blutfettwerten scheint das Fasten auch positive Auswirkungen auf das Risiko für Erkrankungen des Herzkreislaufsystems zu besitzen. [7]
Eine häufig aufkommende Frage in Bezug auf das Fasten im islamischen Monat Ramaḍān ist, wie sich die fehlende Flüssigkeitszufuhr auf den Körper auswirkt. In Bezug auf diesen Punkt gibt es zwar noch keine Vielzahl an aussagekräftigen Studien, in einer Arbeit aus dem Jahr 2003 konnte aber festgestellt werden, dass trotz des relativen Wassermangels tagsüber während der Fastentage gesamtheitlich keine negativen gesundheitlichen Auswirkungen für den Wasserhaushalt des Körpers bestehen. [8] Eine weitere Arbeit aus dem Jahr 2023 kam durch Messungen der Nierenfunktion von 58 gesunden Individuen während der Fastentage zu dem Ergebnis, dass tagsüber infolge der ausbleibenden Flüssigkeitszufuhr zwar eine leichte Einschränkung der Nierenfunktion bei einigen Studienteilnehmern entstand, diese aber durch abendliche Flüssigkeitsaufnahme wieder vollständig reversibel war. Auch nach dem Ramaḍān zeigten sich bei den Studienteilnehmern keinerlei Einschränkungen der Nierenfunktion. [9] Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass sowieso nur körperlich gesunde Personen fasten sollten. Im Heiligen Qur‘an gibt Allah daher in Bezug auf das Fasten folgende Anweisung:
„O die ihr glaubt! Fasten ist euch vorgeschrieben, wie es denen vor euch vorgeschrieben war, auf dass ihr euch schützet – eine bestimmte Anzahl von Tagen. Wer von euch aber krank oder auf Reisen ist, (der faste) an ebenso vielen anderen Tagen; und für jene, die es schwerlich bestehen würden, ist eine Ablösung: Speisung eines Armen.“ [10]
Der Islam ist eine Religion des mittleren Weges, daher weist Allah den Menschen darauf hin, dass er in religiösen Angelegenheiten niemanden über seine Kapazitäten beansprucht:
„Allah belastet niemanden über sein Vermögen. Ihm wird, was er verdient, und über ihn kommt, was er gesündigt. “ [11]
Um noch einmal die Analogie zum Sport zu bedienen: um langfristig die maximale Leistungsfähigkeit abrufen zu können und durch kurzfristiges Überschreiten der persönlichen Leistungsgrenzen dieselben steigern zu können, muss sich der Körper grundsätzlich in einem stabilen, gesunden Zustand befinden. Ist dies nicht der Fall, kann eine Betätigung in der Nähe der individuellen Leistungsgrenze sogar langfristigen Schaden verursachen. Um zum Beispiel die Kraft des Bewegungsapparates durch Bewegen hoher Gewichte steigern zu können, muss die Muskulatur ausgeruht und frei von Verletzungen oder Entzündungen sein. Selbst kleine Verletzungen oder Entzündungen im Bewegungsapparat können dann bei großer Belastung Schaden an der Muskulatur hervorrufen.
Insofern sollte man sich immer vor Augen halten, dass Fasten zwar grundsätzlich jedem erwachsenen Menschen vorgeschrieben ist, daraus aber kein gesundheitlicher Schaden erwachsen darf, da eine Selbstschädigung im Islam nicht erlaubt ist. [12] Bei einer regelmäßigen Medikamenteneinnahme sollte vor dem Fasten unbedingt ein ärztlicher Checkup erfolgen, um sicherzustellen, dass keine Erkrankungen oder körperliche Einschränkungen vorliegen, die sich durch das Fasten verschlimmern oder sogar eine Lebensgefahr darstellen könnten.
Nicht nur die körperlichen Aspekte des Fastens sind interessant – auch die Auswirkungen auf
die Psyche des Menschen sollen im Folgenden kurz Beachtung finden.
Wie eingangs schon erwähnt, sind insbesondere zwei Hormone maßgeblich für das psychische Befinden des Menschen: Serotonin und Dopamin. Während Dopamin vor allem im Belohnungssystem des Gehirns eine Rolle spielt und maßgeblich für Antrieb, Motivation, Selbstbewusstsein und Leistungsfähigkeit verantwortlich ist, sorgt das Hormon Serotonin für innere Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Harmonie. Interessanterweise konnte in einer Studie aus dem Jahr 2017 gezeigt werden, dass während des Fastens im Ramaḍān die Konzentration des Hormons Serotonin im Blut signifikant anstieg. Dies könnte ein Hinweis für die positiven psychischen Effekte sein, von denen viele Fastende nach einigen Tagen berichten. Häufige Beschreibungen sind eine stärkere innere Gelassenheit und ein allgemeines Gefühl der „Leichtigkeit“. [13]
Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren mehrere Studien, in denen man das psychische Wohlbefinden von Teilnehmern vor, während und nach dem Ramaḍān untersucht hat. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2018 in der Türkei hat man 78 gesunde Individuen vor und nach dem Ramaḍān bezüglich ihres psychischen Befindens befragt. Hierbei gab es eine signifikante Verbesserung der erhobenen Skalenwerte für die Einschätzung von depressiven, Angst- & Stresssymptomen. [14] Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Untersuchungen aus dem Iran und Ägypten. Hier konnten bei Studenten, bzw. älteren Patienten mit chronischen Erkrankungen Verbesserungen in der mentalen Gesundheit festgestellt werden. [15]
… Teil III folgt insha´Allah bald!
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Muskelaufbau
[2] https://www.ksta.de/interview-zucker-setzt-dopamin-frei-5543544
[3] https://www.researchgate.net/profile/Stephanie_Cacioppo/publication/285974129_Social_neu%20roscience_of_love/links/5854112208ae77ec37045847/Social-neuroscience-of-love.pdf
[4] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3106288/
[5] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2844782/
[6] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23244540
[7] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/corecgi/tileshop/tileshop.fcgi?p=PMC3&id=879709&s=42&r=3&c=5
[8] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0041134522007667
[9] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/14681711/
[10] Sure 2, Vers 184-185
[11] Sure 2 Vers 287
[12] Vgl. Surah 2, Vers 196; Sunan Ibn Majah 2341
[13] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5505095/
[14] http://www.fppc.com.tr/en/download/article-file/456718
[15] https://www.researchgate.net/profile/Hossam-Ghazi-2/publication/354463805_Effect_of_Ramadan_Fasting_on_Physical_and_Mental_Health_of_Elderly_People/links/6139e5e535e5e82234160089/Effect-of-Ramadan-Fasting-on-Physical-and-Mental-Health-of-Elderly-People.pdf