Wie authentisch sind aḥādīṯ?
Traditionelle ḥadīṯ-Kritik
Saadat Ahmed
Schon seit geraumer Zeit wer- den Handlungen und Erzäh- lungen bestimmter Menschen, seien es Könige oder Propheten, auf unterschiedlichste Art weitererzählt. Heldentaten und Wunderwerke, die als Vorbild für die Nachwelt gedacht waren, sollten nicht in Vergessenheit geraten. Es entstanden Heldenepen und Prophetenerzählungen, die auf verschiedenste Arten festgehalten wurden. Eine literarische Gattung dieser Art sind die aḥadīṯ, die in der islamischen Welt eine große Rolle spielen. Diese geben neben Erzählungen von Heiligen Propheten Mohammad saw über bebstimme Handlungsweisen oder Rechtsbeleh- rungen in Bezug auf den Islam auch einen Einblick in das Leben des Heili- gen Propheten Mohammad saw selbst.
Muslime sehen die Entstehung der aḥādīṯ als eine göttliche Weisung und berufen sich hierbei auf den Qur-ân- vers „[…] Und was euch der Gesandte gibt, nehmt es; und was er euch untersagt, enthaltet euch dessen.“1 und verstehen die aḥādīṯ neben dem
Qur-ân und der Sunna des Heiligen Prophetensaw als eine wichtige Quelle zum Verständnis der Lehren des Islam. Antworten auf Rechtsfragen, die sich durch den Qur-ân nicht erklären lassen, sollen durch aḥādīṯ beantwor- tet werden.2,3 Da nun der Islam nach der ersten fitna zur Zeit des vierten Kalifen Hadhrat Alirs zerstritten war, versuchte jeder durch die Erzählun- gen des Heiligen Prophetensaw die Legitimation seines Rechts zu unter- mauern, wobei auch ḥadīṯ-Fälscher unterwegs waren. Um Fälschungen vom Original unterscheiden zu kön- nen, sowie die Authentizität bei entscheidenden theologischen und rechtlichen Disputen feststellen zu können, wurde die ḥadīṯ-Kritik ein- geführt. Obgleich die traditionell isla- mische ḥadīṯ-Kritik und die modern islamwissenschaftliche dasselbe Ziel, das Herausfiltern der Fälschungen, sowie die Überprüfung der Authen- tizität der aḥādīṯ, verfolgen, sind die Ansätze doch verschieden. Nach Alb- recht Noth, einen deutschen Islam- wissenschaftler, versucht die traditio- nell islamische ḥadīṯ-Kritik durch die Überlieferungskette die Authentizität eines ḥadīṯ zu untermauern, wobei die moderne Islamwissenschaft an- hand des Textes die Authentizität festzustellen versucht.4
Wie man bei der traditionell islami- schen ḥadīṯ-Kritik wirklich vorgegan- gen ist und welche Entwicklungen diese ḥadīṯ-Kritik mit der Zeit erlebt hat, stellt dieser Artikel im Folgenden dar.
Erläuterung von Grundbegriffen der ḥadīṯ-Wissenschaft ḥadīṯ:
Unter ḥadīṯ (arabisch, pl. aḥādīṯ) versteht man in der islamischen Terminologie all das, was dem Heiligen Propheten Mohammad saw zugeschrieben wird. Dies können Überlieferung des Heiligen Prophetensaw sein, die in Form von einer Belehrung seinerseits geschahen oder von Taten bis hin zur schweigsamen Zustimmungen des Heiligen Prophetensaw, die durch seine ṣaḥābars (Gefährten) in mündlicher und schriftlicher Form festgehalten wurden.
Das ḥadīṯ wird in der Islamforschung in zwei Teilen unterteilt. Den isnād und matn.
isnād/sanad:
Fachspezifisch wird unter isnād/sanad die Überliefererkette eines ḥadīṯ verstanden, die zum matn eines ḥadīṯ führt. Diese kann wie folgt aufgebaut sein: A berichtet, dass er von B hörte, dass dieser C sagen hörte, welcher von D erzählt bekam, dass der Heilige Prophet Mohammadsaw folgendes sagte oder tat oder seine schweigsame Zustimmung zu einer gewissen Handlung gab.
matn:
Als matn bezeichnet man den ursprünglichen Text der Überlieferung.
ḫabar und aṯar:
Zudem gibt es noch die Begriffe ḫabar und aṯar, welche als Synonym für ḥadīṯ verstanden werden können, doch im Wesentlichen für die Überlieferungen der ṣaḥābars oder tabeinrt (den Anhängern und Zeitgenossen der ṣaḥābars) benutzt werden.
Entstehung der ḥadīṯ-Literatur und der traditionellen ḥadīṯ-Kritik
Über die Anfänge der ḥadīṯ-Literatur und der damit verbundenen ḥadīṯ- Kritik sind die Meinungen in der westlichen Islamforschung umstritten. Islamforscher wie Fuat Sezgin, Josef Schacht, Ignaz Goldziher und Josef Horowitz sind dieser Frage nachgegangen und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Goldziher sieht die aḥādīṯ nicht als das echte Überlieferungsgut des Heili- gen Propheten Mohammadsaw und vertritt die Meinung, dass diese von späteren Gelehrten für die Unter- stützung der eigenen Lehrmeinun- gen erfunden worden sind.5 Schacht baut die These von Goldziher noch weiter aus und sagt: „I may take it for granted, that the traditions from the Prophet and from his Companions do not contain more or less authentic information on the earliest period of Islam to which they claim to belong, but reflect opinions held during the first two and a half centuries after the hijra.”6 Zudem bezieht er sich hin- sichtlich einer Angabe von ibn Sīrīnrt, dass die traditionelle ḥadīṯ-Kritik mit ihrer isnād-Kritik in der Zeit der fitna (des islamischen Bürgerkriegs) ihre Entstehung hat.7 Er sieht die fitna als den islamischen Bürgerkrieg, der mit der Tötung des Umayyaden Kali- fen al-Walīd ibn Yazīdrt, im Jahre 126 nach der hiǧra, ausbrach.8 Sezgin und Horowitz dagegen sehen die aḥādīṯ schon im ersten Jahrhundert der hiǧra. Fuat Sezgin ist dieser Frage in seinem Werk „Geschichte des arabi- schen Schrifttums, (Bd. 1)“
nachgegangen und kommt durch die Aufzählung mehrerer Nachrichten aus islamischen Quellen zum Ergeb- nis, dass aḥādīṯ schon im ersten mus- limischen Jahrhundert, zur Lebzeiten der ṣaḥābart, vorhanden waren. Zu- dem zeigt er anhand einer ausgie- bigen ḥadīṯ-Methodologie, dass die isnāden nicht nur mündliche Überlie- ferer beinhalten, sondern es finden sich dort auch Überlieferer wieder, die schon im ersten Jahrhundert des Islam einige schriftliche ḥadīṯ– Sammlungen zusammengestellt hatten.9
Horowitz zeigt in seiner sīra– Forschung über die Anwendung der isnāden, dass diese schon vor az- Zuhrīrt, der 124 nach der hiǧra ver- storben ist, angewendet wurden, ob- gleich nicht in der Form, wie sie bei den späteren ḥadīṯ-Werken belegt sind.10 Zudem sieht er die Araber bzw. Muslime nicht als die Erfinder der isnāden, sondern nach seiner Untersuchung sei das Vorbild der isnāden in der Praxis der jüdischen Schulen der talmudischen Zeit zu sehen.11,12
Die Muslime hingegen sehen die An- fänge der ḥadīṯ-Kritik in der Zeit des Umayyadenkalif ʿUmar ibn ʿAbd al- ʿAzīzrt, welcher von 99 bis 101 nach der hiǧra regierte. Er gilt als der erste Mensch, dem der Gedanke aufkam die aḥādīṯ-Sammlungen vor Perver- sionen zu wahren. Für die Erfüllung dieser Aufgabe soll er Moḥammad ibn šahāb az-Zuhrīrt¸ der als einer der größten sunnitischen Obrigkei- ten in Bezug auf aḥādīṯ gesehen wird, ernannt haben. Ein Grund, weshalb ʿUmar ibn ʿAbd al-ʿAzīzrt die Wahrung der aḥādīṯ und die da- mit verbundene Untersuchung der aḥādīṯ beauftragte, lag darin, dass die Opponenten der umayyadischen Dynastie die aḥādīṯ aus politischen Gründen zu ihren Gunsten verän- derten oder erfanden.13 Zudem war die Verwendung der isnāden kein wichtiger Bestandteil der damali- gen ḥadīṯ-Erzählungen. Man konnte darauf verzichten. „Da die in dieser Zeit gestalteten Wissenschaftszent- ren so klein waren, kannten sich die Gelehrten gegenseitig und den Charakter der anderen gut. Diese Eigen- tümlichkeit ergibt sich aus ʿAbdallāh b. al-Mubaraks (-191/809) Ausdruck, daß jeder seine Landsleute besser als andere kannte.“14, 15
Obwohl die Entstehung der ḥadīṯ– Literatur und der damit verbundenen ḥadīṯ-Kritik bei den Islamforschern umstritten ist, ist man sich über den Entstehungsgrund der ḥadīṯ-Kritik ei- nig, und zwar, dass Fälschungen im Umlauf waren. Um diesen Fälschun- gen nachzugehen, wurde die islamische ḥadīṯ-Wissenschaft eingeführt.
Die traditionelle ḥadīṯ-Kritik
Der deutsche Islamwissenschaftler, Albrecht Noth, sagt in seinem Werk „Gemeinsamkeiten muslimischer und orientalistischer ḥadīṯ-Kritik“ aus, dass „das Hauptinteresse der muslimischen Gelehrten […] dem Überlieferung der aḥādīṯ
Isnād“ gilt.16
Diese Aussage widerspricht einer Untersuchung seitens muslimischer Islamforscher, wonach der matn mit dem gleichen Interesse in die tra- ditionelle ḥadīṯ-Kritik einfließt, wie der isnād. Der Leiter der Abteilung für Auslandsbeziehungen im „Amt für Religiöse Angelegenheiten“ und stellvertretender Vorsitzender der DITIB, Prof. Dr. Ali Dere, zeigt in sei- ner Arbeit, dass der matn zwar bei der Überlieferungskritik in der Epo- che der Gefährten stärker als der isnād berücksichtigt wurde, jedoch „können wir diese Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Ḥadīṯes, ohne den Isnād in Rechnung zu stellen, nicht nur auf die erste Generation beschränken. In späteren Generati- onen begegnen wir einer ähnlichen Einstellung bei denen, die sich dazu imstande fühlten. İbn al-Qayyım al-Ǧawziyya weist in seinem Werk, das sich mit glaubwürdigen und un- glaubwürdigen Ḥadīṯen beschäftigt, in Beantwortung der Frage, ob es ein glaubwürdiger Ḥadīṯ, ohne den Isnād in Rechnung zu stellen, durch die allgemeinen Regeln von einem unglaubwürdigen Ḥadīṯ, unterschie- den werden kann[…], darauf hin, daß die Entscheidung über Anerkennung und Anwendung eines Ḥadīṯes nicht nur vom Isnād, sondern vielmehr vom Matn abhängig gewesen war. Eine Bestätigung dieser Meinung könnte man bei as Sam’ānī sehen. Gemäß as-Sam’ānī kann man einen vollkommenen Ḥadīṯ nicht nur durch die Überlieferung der vertrauens- würdigen Gewährsmänner, sondern vielmehr durch die Auffassungsgabe, die Sachkenntnis und die Häufigkeit des Anhörens erkennen[…]. Deswegen kann sich ein Rechtsgelehrter von der Echtheit einer Überlieferung – falls deren Isnād keinen unglaubwürdigen Tradenten enthält – durch den Ein- klang ihres islamischen Rechtswis- senschaft überzeugen. […]“17
Klassifizierung der aḥādīṯ
Ein ḥadīṯ wird anhand dreier Be- zeichnungen klassifiziert. Als marfuʿ (gehoben) gilt ein ḥadīṯ, wenn et- was dem Heiligen Propheten Mo- hammadsaw zugeschrieben wird. Dies können sowohl Worte und Taten als auch schweigsame Zustimmung, so- wie physische Merkmale und Charak- teristiken sein. Werden jedoch diese Punkte den ṣaḥābars zugeschrieben, so gilt das ḥadīṯ als mauqūf (angehal- ten). Wenn nun Worte und Taten ei- nes Tābiʿī beschrieben werden, so gilt das ḥadīṯ als maqṭūʿ (abgetrennt).
Zwei Grundlagen der ḥadīṯ– Forschung
In der traditionellen ḥadīṯ-Forschung wird das ḥadīṯ in seinen zwei zu un- tersuchenden Grundlagen, den uṣūl, unterteilt: Der riwāyat, die die Glaub- würdigkeit eines rāwī (Überlieferers) und die Qualität der isnāden unter- sucht18 und der dirāyat, die die über- lieferte Thematik untersucht, welche gemäß der Lehren des Islam (Qur-ân) und der Sunna des Heiligen Prophe- ten Mohammadsaw zu sein hat.19
- riwāyat: Die Überliefererkritik
Ein zu untersuchendes Element der riwāyat, die Glaubwürdigkeit bzw. Qualität eines rāwī wird auch als ʿilm al-ǧarh wa at-taʿdīl (die Wissenschaft der Überliefererkritik) bezeichnet.20 Hierbei wird der rāwī in folgenden Kriterien unterteilt:
- ʿādil (rechtschaffen)
- ṯābit / ḍābiṭ (genau)
John Burton gibt in seiner Arbeit „An introduction to the Ḥadīth“ noch folgende zwei weitere Kriterien be- kannt:
- ṯiqa (glaubwürdig)
- ḥāfiẓ (gutes Gedächtnisver- mögen)
Diese beiden Kriterien findet man bei der herangezogenen Analyse durch einige Muslime und Islamforscher nicht als für sich alleinstehende Kri- terien wieder. Als ṯiqa (glaubwürdig) wird dort jener bezeichnet, der ʿādil (rechtschaffen) und ṯābit / ḍābiṭ (ge- nau) zugleich ist. Das Kriterium ḥāfiẓ (gutes Gedächtnisvermögen) findet man in ṯābit / ḍābiṭ (genau) wieder.21,22
i. ʿādil
Der rāwī muss rechtschaffen und fromm in dem Sinne sein, dass in erster Linie eine gewissenhafte Be- achtung der Religion von ihm ausge- hen muss, was bedeutet, dass er ein wahrhaft praktizierender Muslim zu sein hat. Der Überlieferer muss zu- dem ein Alter erreicht haben, in dem er die Wichtigkeit der Überlieferung des Heiligen Propheten Mohammad- saw vernommen hat und muss einen gesunden Menschenverstand haben.
ii. ṯābit / ḍābiṭ
Eine genaue Beschreibung eines ge- nauen rāwī findet man bei Prof. Dr. Ali Dere. Er sieht die Genauigkeit ei- nes rāwī, indem „der Rāwī wach und achtsam sei und seine Überlieferung mustergültig auswendig rezitiere, wenn er aus dem Gedächtnis tra- diert. Wenn er aber von seinem Buch vorliest, so soll er es vor Fälschun- gen bewahren. Ferner ist es eine un- verzichtbare Bedingung, daß er so scharfsinnig ist, daß er erkennt, welchen Bedeutungswandel es haben kann, wenn er seinen Begriff gegen einen anderen austauscht. Ein Tra- dent kann dann für seine Genauigkeit gelobt werden, wenn seine Überlie- ferung größtenteils mit denen, die von anderen gewissenhaften, ver- trauenswürdigen Leuten tradiert wurden, in Einklang steht, auch wenn es nicht wortwörtlich, sondern nur hinsichtlich der Bedeutung sei. Wenn aber dieser verlangte Einklang selten ist und Widersprüche sich sogar ver- mehren, dann wird seine Genauig- keit abgelehnt und man darf mit ihm nicht argumentieren.“
b. riwāyat: Die Untersuchung der isnāden
Das zweite Element der riwāyat ist die Untersuchung der isnāden. Die- se wird durch zwei unterschiedliche Herangehensweisen untersucht. Die Qualität der isnāden und die Quanti- tät der Überlieferer einer Generation innerhalb eines isnāds.
iii. Qualität der isnāden
Die Qualität der isnāden ist wie folgt unterteilt:
Als musnad (bestätigt) bezeichnet man ein ḥadīṯ, wenn eine ununter- brochene Überlieferungskette vor- handen ist. Einige definieren jedoch einen lückenlosen marfuʿ–ḥadīṯ als musnad. Haben die Überlieferer ei- nes musnad–ḥadīṯes in demselben Zeitraum gelebt und sich auch ge- troffen, so ist das ḥadīṯ nicht nur bloß musnad, sondern auch muttaṣil (verbunden) und trägt somit den Namen musnad–muttaṣil. Fehlen ein oder mehrere Überlieferer in der Kette oder ist überhaupt keine Kette vorhanden, so wird das ḥadīṯ als muʿallaq (eingestellt) eingestuft. Werden jedoch nach einem tābiʿī keine weiteren Überlieferer genannt und es heißt, dass der tābiʿī sagt, dass der Heilige Prophetsaw sagte oder er den Heiligen Prophetensaw sagen hör- te, so ist das ḥadīṯ mursal (geschickt/losgelassen). Fehlt jedoch ein Über- lieferer, unabhängig von der Stelle der Unterbrechung, ist das ḥadīṯ munqatiʿ (unterbrochen).
iv. Die Quantität der Überlieferer in- nerhalb einer Generation
Bei der Untersuchung der Quantität der Überlieferer von ein und dersel- ben Generation wird das isnād in fol- genden Kategorien unterteilt:
mutawātir („ununterbrochen auf- einanderfolgen und sich wiederho- len“): Das isnād wird von mehreren Überlieferern (einer Generation) gestützt und bei denen ist eine (geheime) Absprache zu einer Lüge nicht 23
aḥād (pl. von aḥad è einzel / einer): Ein ḥadīṯ, welches nicht mehrere Überlieferer einer Ge- neration beinhaltet.
Die folgenden Kategorien wer- den von manchen Gelehrten als eine Unterkategorie von ahād angesehen. Andere hin- gegen stellen sie als eine für sich allein stehende Kategorie dar.
mašhūr (berühmt): Ein ḥadīṯ, welches mehr als zwei Überlieferer einer Generation beinhaltet.
ʿazīz (selten/stark): Ein ḥadīṯ, das an irgendeiner Stelle des isnāds nur zwei Überlieferer einer Generation bein- haltet.
ġarīb (fremd): Ein ḥadīṯ, das nur von einem einzigen Überlieferer inner- halb einer Generation überliefert ist.
c. dirāyat
Bei der Untersuchung der dirāyat wird das Wesen des matn in Betracht gezogen. Hierbei wird der matn nach folgenden Kriterien untersucht:
- Es darf in erster Linie nicht im Wi- derspruch zu den Lehren des Heili- gen Qur-âns
- Es darf der Sunna des Heiligen Pro- pheten Mohammadsaw sowie dem iǧmāʿ, Konsens der ṣaḥābars, nicht widersprechen.
- Es darf nicht im Widerspruch zu einer mehr authentischen Quelle Geschehnis stehen.
- Das erwähnte Geschehnis im matn darf den „gesunden Menschenver- stand“ nicht widersprechen.
Da man in den ḥadīṯ– Methodologiebüchern nur den äu- ßerlichen und formalen Aspekt des ḥadīṯ, den isnād, in Betracht gezogen hat, findet man die matn-Kritik in den Büchern der islamischen Rechts- wissenschaft, den furūʼ-Büchern. Ein ḥadīṯ gilt im Hinblick auf das dirāyat als ṣaḥīḥ (authentisch/ gesund), wenn sie der obigen Beschreibung vollstän- dig zutrifft. Gibt es Unstimmigkeiten, so ist das ḥadīṯ ḍaʻīf (schwach) und wird nicht akzeptiert. Kommt jedoch bei der Untersuchung heraus, dass der Text gefälscht ist, so wird das ḥadīṯ zu mauḍūʻ (gefälscht). Hierbei sind sich einige Gelehrten einig, unter denen auch ibn al-Ǧauzi zählt, dass ein ḥadīṯ, welches auch nur einen kleinen Widerspruch zu den Kriteri- en der dirāyat aufweist, obgleich ihr isnād den höchst authentischen Rang und die authentischsten Überlieferer beinhalte, als gefälscht und somit als Märchen der quṣṣaṣ (Geschichtener- zähler) zu betrachten ist. Als maʻlūl (krank / defekt) gilt ein ḥadīṯ, die von ihrer äußeren Struktur her als ge- sund betrachtet wird, jedoch durch einen scharfsinnigen Traditionskun- digen mit „einen weitreichenden Einblick, ein gutes Gedächtnis und eine mit Feinfühligkeit ausgestattete Auffassungsgabe“24 ein Fehler erkun- det wird. Dieser Fehler kann sowohl im matn als auch im isnād vorhanden sein. Bezüglich der Erkundung dieses Fehlers heißt es laut islamischen Gelehrten, dass „die Traditionerkenntnis […] [eine Art] Inspiration [ist]. […] [Hätte man] einen Gelehrten, der einer Überlieferung gegen- über einen Einwand vorbringt, nach dem Grund dafür ge- fragt, weswegen er sie mit der Schwäche belegte, so hätte er dafür vielleicht kein Argument gehabt.“25 Diese Inspiration ist eine Art Begabung. Die Ent- scheidung über eine Schwäche bzw. Krankheit in einem ḥadīṯ ist nicht die einer einzigen Per- son, sondern findet ihre Ein stimmung auch bei anderen scharf- sinnigen Traditionskundigen, wie die folgende Aussage von Abū Zur’a ad- Dimašqī verdeutlicht:
„Jemand fragte Abū Zur’a ad-Dimašqī (-281 d.H.), was für einen Beweis er dafür habe, wenn er eine Überliefe- rung widerlegt. Seine Antwort darauf war folgende: „Der Beweis dafür ist, daß du mich nach einer unvollkom- menen Überlieferung fragst, und ich dir deren Schwäche erkläre. Danach gehst du zu Muslim b. Warāʿ und fragst ihn auch danach, ohne ihm zu sagen, daß du mich zuvor danach gefragt hast. Dann wird er dir etwas ähnliches mitteilen. Ebenso gehst du dann zu Abū Hātim und er gibt dir die gleiche Antwort. Falls du, nachdem du alle Erwiderungen auf diese Frage analysiert hast, zwischen uns einen Widerspruch findest, dann wisse, daß jeder von uns subjektiv gespro- chen hat. Aber wenn du andererseits eine Übereinstimmung siehst, dann erkenne die Wahrheit dieses Wissens an.“26
Erkennt man einen Zusatz im Überlie- ferungstext, so ist das ḥadīṯ mudraǧ (hochgerechnet).
Authentizität eines ḥadīṯes
Die Authentizität eines ḥadīṯes er- folgt durch eine Unterteilung in den vier folgenden Hauptkategorien:
- ṣaḥīḥ (authentisch / gesund)
- ḥasan (gut)
- ḍaʿīf (schwach)
- mauḍūʻ (gefälscht)
Als ṣaḥīḥ (authentisch / gesund) gilt ein ḥadīṯ, wenn alle Qualitäten eines Überlieferer (ʿādil, ṯābit/ḍābiṭ, ṯiqa, ḥāfiẓ) in allen vorhanden Überliefe- rer eines isnādes nachweisbar sind. Die Überliefererkette darf dabei nicht unterbrochen sein und muss bis zum Heiligen Propheten Mohammadsaw zurückzuführen sein. Zudem müssen sich die Überlieferer des Isnādes ge- troffen haben. Das ḥadīṯ darf nicht maʻlūl (krank / defekt) sein und es sollte ein weiterer starker Isnād mit derselben Überlieferung vorhanden sein.
Für das ḥasan-ḥadīṯ findet man keine eindeutige Bezeichnung. Einige zie- hen hierbei vor zu untersuchen, wie ṯābit / ḍābiṭ (genau) ein Überlieferer ist. Gibt es keine Einstimmigkeit in der Genauigkeit eines Überlieferers eines ṣaḥīḥ-ḥadīṯes, so ist das ḥadīṯ ḥasan (gut). Zudem muss der Inhalt des ḥadīṯes durch andere parallele Überlieferungen bestätigt sein.
Kann ein ḥadīṯ den Rang eines ḥasan-ḥadīṯes nicht nachweisen, da es größere Abstriche in der Genau- igkeit oder Rechtschaffenheit eines Überlieferers gibt oder die Über- lieferungskette erreicht nicht den höchstmöglichen Rang und ist somit muʿallaq (eingestellt), mursal (ge- schickt/losgelassen) oder munqatiʿ (unterbrochen), so ist das ḥadīṯ ḍaʿīf (schwach).
Widerspricht ein ḥadīṯ den Normen, die für die Überlieferung des Heiligen Propheten Mohammadsaw festgelegt worden sind, so ist es mauḍūʻ (ge- fälscht) und somit erfunden.
ʿilm ar-riǧāl – die Wissenschaft über die Männer
Für die Untersuchung der Qualitä- ten der Überlieferer wurde am An- fang des achten Jahrhunderts das ʿilm ar-riǧāl – die Wissenschaft über die Männer (bzw. Überlieferer) ei- nes ḥadīṯes eingeführt. Dabei ging man „jedem einzelnen der in den Isnaden erwähnten Gewährsmän- ner nach, um seinen Charakter zu ergründen, um zu erfahren, ob er moralisch und religiös unanfechtbar sei, ob er nicht Propaganda für anti- sunnitische Zwecke mache, ob seine Wahrheitsliebe im allgemeinen als erwiesen gelten könne, ob er die persönliche Fähigkeit habe, das Ge- hörte treu wiederzugeben, ob er ein Mann sei, dessen Zeugenschaft in ci- vilrechtlichem Sinne vom Richter un- bedenklich zugelassen würde. Denn die Hadithüberlieferung betrachte- te man als die erhabenste Form der Shahada, der Zeugenaussage, da der Rawi (d. h. der Überlieferer) ein für die Gestaltung des religiösen Lebens höchst wichtiges Zeugnis ablegt dar- über, dass er diese oder jene Worte von dem oder jenem gehört habe.“27 Diese Zeugnisse über die Tradenten sowie ihr ausgiebiger Lebenslauf sind in den kutub ar-riǧāl, Bücher über die Traditionarier, festgehalten.
Die Muslime sind bei der Untersu- chung der Authentizität der aḥādīṯ mit äußerster Vorsicht vorgegangen. Alles wurde bis ins kleinste Detail un- tersucht und nichts wurde dem Zufall überlassen. Dabei hat man nicht nur die isnāden bei der Untersuchung vorgezogen, sondern dem matn die notwendige Beachtung zukommen lassen. Das ḥadīṯ wurde somit in verschiedenen Kategorien unterteilt und eine eigene Wissenschaft zur Untersuchung der Authentizität der Überlieferungen des Heiligen Pro- pheten Mohammadsaw kam dabei zu Stande. Bei der Untersuchung des isnāds wurde nicht nur die Qualität der Überlieferer in Betracht gezogen, sondern auch ihre Anzahl innerhalb einer Generation, um feststellen zu können, in wie fern ein ḥadīṯ von mehreren Überlieferer einer Genera- tion überliefert wurde. Zudem wurde untersucht, in wie weit ein Zusam- mentreffen der Überlieferer möglich war. Dabei wurde dasʿilm ar-riǧā – die Wissenschaft über die Männer (bzw. Überlieferer) eines ḥadīṯes ein- geführt. Des Weiteren wurde auch untersucht, in wie weit mehrere, sich voneinander unterscheidende, au- thentische isnāden zu einem matn des ḥadīṯes zu finden sind. Bei der Untersuchung des matns spielte das islamische Recht eine bedeutende Rolle, wobei es keinen Widerspruch zu den Lehren des Heiligen Qur-âns und zu der Sunna des Heiligen Pro- phetensaw beinhalten durfte. Zuletzt wurden das ḥadīṯ als Ganzes be- trachtet und nach den Kategorien des isnāds und des matns entweder als authentisch bezeichnet und ange- nommen oder als schwach oder ge- fälscht entlarvt und abgelehnt.